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Gedanke der Woche, Paraschat Beschalach :
Finstere Tiefen
von Yanki Tauber
„Wenn ich das gewusst hätte!“
Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht über
die Grenzen unserer Einsicht klagen. „Hätte
ich doch gewusst, warum sie das gesagt hat ... warum
er das getan hat ... warum ich mich so benommen habe.“
Gewiss, man könnte vieles über die Grenzen
unseres Wissens sagen. Wir wissen nicht alles, und darum
haben wir den Raum und die Freiheit, Entscheidungen
zu treffen. Dichter und Schriftsteller sind sich darüber
einig, dass unser Leben wegen eben dieses Dilemmas lebenswert
ist. Aber Unwissenheit schränkt uns ebenfalls ein.
Können wir gleichzeitig wissen und nicht wissen?
Ja, das geht. Darum hat G–tt uns das Unterbewusstsein
gegeben.
„Alles, was an Land existiert“, sagt der
Talmud, „existiert auch im Meer.“ Kabbalisten
verstehen diese Regel in einem weiteren Sinn und erklären,
dass wir die ganze Wirklichkeit in zwei Bereiche einteilen
können: in die „offenbarten Welten“
und in die „verborgenen Welten“. Das Meer
hat Berge und Täler, Flüsse und ein Wetter
sowie Lebewesen in vielen Formen. Doch alles liegt im
Wasser, unseren neugierigen Augen fast ganz verborgen.
Wir wissen mehr über die Oberfläche des Mondes
als über den Meeresgrund! Andererseits hat die
materielle Welt ein spirituelles Spiegelbild, und unser
Bewusstsein ist nur ein Spiegelbild des verborgenen
Unbewussten unserer Seele. „Alles, was an Land
existiert, das existiert auch im Meer.“ Jedes
Element in den offenbarten Welten hat sein Gegenstück
in den verborgenen Welten. Beide können äußerlich
so verschieden sein wie Pferde und Seepferdchen; dennoch
sind sie auf mysteriöse Weise verbunden. Wenn wir
im Leben den „irdischen“ Teil unserer Psyche
nutzen, zapfen wir also gleichzeitig das riesige Reservoir
des Wissens und der Intuition des „Meeres“
– des Unbewussten – an. Was verbindet beide
Welten? Eine uralte Erinnerung an den Tag, als das Meer
sich teilte und enthüllte, was es verbarg.
Unsere Weisen sagen: Als das Rote Meer sich vor den
Kindern Israel teilte, spaltete sich jedes andere Gewässer
auf Erden ebenfalls: der Amazonas, der Mississippi,
alle Schwimmbäder, alle Wannenbäder, alle
Teekessel in China. Sogar das große, finstere
Meer des Himmels teilte sich und enthüllte seine
Geheimnisse. Auch die tiefe, tiefe See der menschlichen
Seele teilte sich, und für einen kurzen Augenblick
war alles, was sie enthält, im Tageslicht zu sehen.
Dann verschlang das Wasser der Schöpfung seine
Welten wieder, und das Leben kehrte zu seiner herrlichen
Zweideutigkeit zurück. Doch die Erinnerung an diesen
Tag bleibt und bildet eine starke Brücke zwischen
dem Verborgenen und dem Offenbarten.
Der Standpunkt des Rebbe
Gedanken und Einsichten des Lubawitscher Rebbe
In jedem von uns ist ein Funke von Mosche. Er ist unser
Lehrer. Ein Lehrer hat die Aufgabe, ein kleines Fenster
zu öffnen, damit inneres Wissen ins Bewusstsein strömen
kann. Wie weckst du Mosche auf? Indem du dich aufweckst.
Und wie weckst du dich auf? Indem du jemanden findest,
in dem Mosche bereits wach ist. Nur ein Erwachter kann
andere wecken.
Leitgedanken
„Miriam sprach zu ihnen: Singt zu G–tt:
Er ist mächtig und erhaben; er jagt das Ross
und seinen Reiter ins Meer“ (15:21).
Frage: Warum wies sie die Frauen
vor allem auf das Ertrinken des Pferdes und des Reiters
hin?
Antwort: Der höchste Sinn des
Auszugs aus Ägypten war der Empfang der Torah,
die alle Männer studieren müssen. Nach der
Gemara (Sota 21a) sind die Frauen zwar nicht verpflichtet,
die Mizwa des Torahstudiums zu erfüllen, aber
sie werden dafür belohnt, dass sie ihren Gatten
und Kindern beim Studium helfen.
Als Haschem die Ägypter und ihre Pferde ertränkte,
fragte sich Miriam, warum er auch die unschuldigen
Pferde bestrafte. Sie kam zu dem Schluss, dass die
Pferde den Reitern bei ihren bösen Plänen
geholfen hatten und daher ebenfalls Strafe verdienten.
Und daraus leitete sie ab, wie groß der Lohn
für die Frauen sein muss, die ihre Gatten und
Kinder dazu inspirieren, die Torah zu studieren, und sie dabei
unterstützen.
Wieder einmal zog der römische Kaiser Hadrian
durch Israel und begegnete einem alten Mann, der Löcher
in die Erde grub, um junge Bäumchen zu pflanzen.
Als der Kaiser das graue Haar des Alten sah, rief
er: „He, Graubart – warum musst du im
Alter noch arbeiten? Warst du in deiner Jugend faul?“
„Nein, Herr“, antwortete der alte Mann.
„Ich habe auch in meiner Jugend gearbeitet,
und ich verachte die Arbeit im Alter nicht, solange
G–tt mir die Kraft dazu gibt.“
„Aber du erwartest doch wohl nicht, die Früchte
deiner Arbeit zu ernten? Wo wirst du sein, wenn diese
Bäumchen Früchte tragen?“
„So G–tt will“, erwiderte der Alte,
„darf ich die Früchte dieser jungen Bäume
genießen.“
„Du bist sehr optimistisch, alter Mann. Wie
alt bist du?“
„Heute ist mein hundertster Geburtstag.“
„Du bist also hundert Jahre alt und hoffst dennoch,
die Früchte dieser Bäume zu essen? Warum
arbeitest du so hart für eine so geringe Chance?“
„Selbst wenn G–tt mich nicht so lange
leben lässt, habe ich nicht vergeblich gearbeitet.
So wie mein Großvater für mich pflanzte,
will ich für meine Enkel pflanzen.“
„Weiser Mann“, rief der Kaiser aus, „Wenn
du lange genug lebst, um diese Früchte zu essen,
lass es mich unbedingt wissen!“
Jahre vergingen, und die jungen Feigenbäume trugen
Früchte. Der alte Mann erinnerte sich an sein
Gespräch mit Hadrian und wollte ihn besuchen.
Er pflückte einen Korb schöne Feigen und
machte sich auf den Weg. Als die Wachen ihn einließen,
erkannte ihn der Kaiser nicht.
„Was bringst du mir, alter Mann?“, fragte
er ungeduldig.
„Ich bin der Mann, den du vor Jahren junge Bäumchen
pflanzen sahst. Du hast mir befohlen, dich zu unterrichten,
sollte ich lange genug leben, um die Früchte
zu essen. Nun, hier bin ich mit einem Korb voller
Feigen, damit der Kaiser sie genießen möge.“
Erstaunt riss Hadrian die Augen auf. Er befahl, dem
Alten einen goldenen Stuhl zu bringen und bot ihm
den Platz an. Dann wies er seine Diener an, den Korb
mit Goldmünzen zu füllen. Seine Minister
waren entsetzt – warum behandelte er einen alten
Juden so respektvoll? Doch als sie ihren Unwillen
äußerten, schalt Hadrian sie: „Wenn
der Schöpfer der Welt diesen Mann so geehrt und
ihm so viele Jahre geschenkt hat, dann hat er es gewiss
verdient, dass auch ich ihn ehre!“
Der alte Mann kehrte mit Gold und Ruhm nach Hause
zurück, und die Nachbarn beglückwünschten
ihn. Ein Paar war jedoch sehr neidisch. Die Frau sagte
zu ihrem Mann: „Anscheinend liebt der Kaiser
Feigen. Warum schenkst du ihm nicht ein paar und bringst
ihr Gewicht in Gold zurück? Und sei kein Narr
— nimm keinen kleinen Korb, sondern einen großen
Sack voller saftiger Feigen. Dann kehrst du mit einem
wahren Schatz zurück!“
Der Mann befolgte den Rat. Als er am Palast ankam,
sagte er zu den Wachen: „Ich habe gehört,
dass der Kaiser Feigen mag und sie für Goldmünzen
eintauscht. Nun, ich habe einen Sack voller Feigen.
Lasst mich ein, damit ich sie dem Kaiser bringe.“
„Warte hier“, befahl der Hauptmann der
Wachen.
„Lasst den Dummkopf am Tor stehen“, befahl
der Kaiser zornig. „Stellt den Sack, den er
bei sich hat, an den Eingang und lasst jeden, der
kommt oder geht, eine Feige auf den Narren werfen!“
Die Befehle des Kaisers wurden genau befolgt.
Gegen Abend, als die „Munition“ erschöpft
war, ließ man den Mann gehen. Als seine Frau
sein verschrammtes Gesicht sah, rief sie: „Was
ist passiert? Wo ist das Gold?“
„Ich wollte, du hättest meinen Reichtum
mit mir geteilt!“, erwiderte ihr Gatte und erzählte
ihr, was geschehen war.
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